Wir alle tragen eine tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit, Nähe und Geborgenheit in uns. Wir möchten dazugehören, von anderen gemocht und anerkannt werden. Von den meisten zumindest, besonders von den Menschen, die uns nahestehen. Spüren wir, dass unsere Familie, Partner, Freunde und Bekannte gerne mit uns Zeit verbringen und sie unsere Anwesenheit genießen und wertschätzen, trägt das zu unserem Wohlbefinden und unserer Entspannung bei. Wir fühlen uns von unserem Umfeld getragen und freuen uns sorglos auf unsere Verabredungen.

Das Grundbedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit ist elementar. Das gilt solange wir davon nicht abhängig werden und uns bewusst ist, dass wir für unser Wohlbefinden selbst verantwortlich sind.

Im Idealfall sorgen wir für unsere Zufriedenheit, verbiegen uns nicht und blenden auch nicht unsere Wünsche und Bedürfnisse aus. Wir fühlen uns selbstbestimmt und sind nicht auf andere angewiesen.

Natürlich sind wir über abgesagte Verabredungen, auf die wir uns gefreut haben oder den Wegzug einer vertrauten Person enttäuscht und traurig.

Doch stürzen wir deshalb nicht in den Abgrund und fühlen uns hilflos. Unser Selbstbild wird dadurch nicht geschmälert.

Ein Familienalltag, besonders mit kleinen Kindern, verlangt auch häufig, dass wir uns zurücknehmen und eigene Wünsche finden wenig Platz. Dies ist nicht mit emotionaler Abhängigkeit zu vergleichen. Unser Verzichten in der Familie sollte aus Liebe heraus geschehen. Und das ist der große Unterschied zu emotional abhängigen Menschen.

Sie handeln aus ihrer Angst heraus und wollen vom anderen etwas haben.

Es ist wichtig zu spüren, welche Energie hinter einer Handlung steht. Die Energie der Angst oder der Liebe?

Wir sollten uns die Frage stellen:

Verhalte ich mich angepasst oder hilfsbereit, um das zu erhalten, was mir fehlt? Zuwendung, Sicherheit, Aufmerksamkeit und Geborgenheit?

Was erwarte ich von meinem Partner? Was soll er mir dafür geben. Dann ist es eine Reaktion aus der Angst heraus.

Liebe ist kein Handelsgeschäft! Wenn ich dir das gebe, gibst du mir dafür auch etwas zurück.

Handeln wir aus der Liebe heraus, dann erwarten wir nichts von dem anderen. Wir geben gerne und wollen nichts zurück. Aus dieser Haltung wächst fast immer eine dankbare und herzliche Verbindung. Obwohl unser Geben bedingungslos ist, erhalten wir jede Menge warmherzige Geschenke.

Emotional abhängige Menschen sind fest davon überzeugt, dass sie aus großer Liebe heraus handeln. Sie verzichten, verhalten sich aufopfernd und geben alles, damit es ihrem Partner oder einer anderen Person gut geht.

Ihre Glaubenssätze wie zum Beispiel: Ich werde nur gesehen und geliebt, wenn ich mich nützlich mache, mich anpasse oder Leistung bringe, führen zu inneren Einschränkungen und steuern automatisiert das Leben.

Das Zitat von Jorge Bucay drückt das wunderbar aus:

Nur wenn ich mich selbst wertvoll fühle,
kann ich mich akzeptieren,
kann ich authentisch sein,
kann ich ICH sein.

Emotional Abhängige haben aufgrund ihrer früheren Erfahrungen keine Vorstellung davon, dass sie wertvoll, bedeutsam genug sind und sich selbst Anerkennung schenken können.

Haben wir nicht gelernt, um uns selbst zu kümmern, zu fühlen, was uns erfüllt, dann ist es uns nicht möglich, für den anderen da zu sein. Sind wir im Inneren unzufrieden und fühlen Mangel, sind wir nicht in unserer Kraft. Dann wollen wir etwas vom anderen, verbiegen uns, um etwas zu erhalten. Daraus resultiert oft Müdigkeit, Erschöpfung und Verzweiflung.

Der Bedürftige gibt seine Verantwortung ab und legt sie in die Hände seines Partners. Subtil vermittelt er, dass sein Wohlbefinden, Glück und Selbstwert von dem Verhalten des Partners abhängt.

Zusätzlich fehlen ihm das Verständnis und die Empathie für die Gefühle anderer Menschen. Daher fällt es ihm schwer, die Reaktionen seines Umfeldes zu verstehen und zu akzeptieren. Dass der Partner von zu viel Bedürftigkeit abgeschreckt oder überfordert ist, nimmt der Bedürftige nicht wahr.

Andere Menschen glücklich und vergnügt zu erleben, ist für emotional Abhängige  schwer auszuhalten. Sie fühlen sich vom Leben ungerecht behandelt und sind auf die Menschen eifersüchtig, die es in ihren Augen viel besser und leichter haben, eifersüchtig.

Ihre Reaktionen fallen meist gereizt oder aggressiv aus.

Wir sehen die Dinge nicht,
wie sie sind,
wir sehen sie so,
wie wir sind.
Anais Nin (1903-1977)

Nochmal zur Erinnerung: Das Verhalten dieser Menschen ist eine Strategie, damit sie ihre innere Not, die mit schmerzhaften Gefühlen verbunden ist, nicht spüren. Diese Strategie, dieser Notfallplan, war in der Vergangenheit nötig, um die schwere Zeit zu überstehen. Die damals entwickelten Glaubenssätze manifestierten sich und wirken noch heute.

Je nach dem Grad der emotionalen Abhängigkeit und unabhängig von unserem Alter ist es sehr gut möglich, uns selbst aus dieser Dynamik zu befreien.

Im nächsten Artikel (Teil 4) beschreibe ich hilfreiche Übungen, um aus den Tendenzen oder Mustern der emotionalen Abhängigkeit heraus zu finden.

Es ist nie zu spät, auch wenn die Vergangenheit mit seelischen Wunden verbunden ist, selbstbestimmte, zufriedene und glückliche Beziehungen zu leben.